Wohin geht die Reise?
Inspiriert vom geistlichen Oberhaupt der Tibeter entstehen vor dem geistigen Auge des Fernwehgeplagten Bilder von türkisblauen Buchten, abenteuerlichen Urwaldlodges oder einer Nacht unter dem endlosen Sternenhimmel der Wüste Kalahari. Allein, 2020 war alles andere als der Zeitpunkt, um in die große, weite Welt aufzubrechen. Die Welttourismusorganisation UNWTO prognostizierte für dieses Jahr, dass nur noch eine Milliarde Menschen international reisen werden im Vergleich zu 1,4 Milliarden im Jahr 2019. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) rechnete für ihre 36 Mitgliedsstaaten gar mit einem Einbruch von 40 bis 70 Prozent an internationalen Reisenden in diesem Jahr.
„Mögest du in interessanten Zeiten leben“, so ein chinesischer Fluch. Ein Tatbestand, der in diesem Jahr zur Genüge erfüllt sein dürfte. Die Chinesen – die blieben derweil daheim und überließen ihre langjährigen Sehnsuchtsorte in Europa den Europäern. Und so können wir in diesem Sommer durch das vergleichsweise spärlich besuchte Hallstatt bummeln oder in Venedig abends unsere Maske vom Gesicht nehmen, um am fast menschenleeren Markusplatz ein Gelato zu schlecken. Auch Dubrovnik, sonst das Mekka aller Game-of-Thrones-Fans, hat man seit Jahren nicht so leer gesehen. Da hat der Fluch auch sein Gutes. Des einen Leid, des anderen Freud – natürlich bei allem Mitgefühl für die betroffenen Tourismusregionen.
„Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet“, konstatierte bereits 1958 der Publizist Hans Magnus Enzensberger in seinem Essay „Theorie des Tourismus“. Eine Behauptung, die man nach dem grenzenlosen Wachstum der Reisebranche in den letzten Jahrzehnten wohl seufzend bejahen muss. Jahrzehnte später, als bereits an jeder griechischen Inseltaverne ein Tripadvisor-Aufkleber pickte, schrieb Enzensberger: „Im Easyjet-Zeitalter, in dem jeder Trafikant New York und Bali längst auswendig kennt, hat das Fernweh seinen Glanz verloren. Wie eine Wanderheuschrecke zieht der Mensch mit der Masse um die Welt.“
Demgemäß war die Vollbremsung durch Corona vielleicht schon vor Corona absehbar. Eine Schlussfolgerung, die auch eine aktuelle Trendstudie zum Thema „Tourismus nach Corona“ zieht, die vom renommierten Deutschen Zukunftsinstitut erarbeitet wurde. Peak schon vor Corona erreicht „Die Herausforderungen, vor denen der Tourismus steht, waren bereits im Vorfeld der Corona-Krise enorm“, stellen die Forscher des Zukunftsinstituts fest. Die Reisebranche hätte bereits unter einem Vertrauens- und Imageverlust gelitten, der mit Insolvenzen begann und durch geopolitische Unsicherheiten zusätzlich genährt wurde. Die Debatte zu Klimawandel und Overtourism hätten bereits in den letzten Jahren starken Einfluss auf das individuelle Reiseverhalten gehabt. „Der Reset, den die Corona-Krise bewirkte, erzwang dieses Neudenken mit einem Schlag.“ Ein guter Zeitpunkt, um das Thema Tourismus neu zu denken. Denn „so schmerzlich die Pandemie wirtschaftlich für die Branche ist: Sie kann – und muss – auch als Anbeginn einer neu- en, nachhaltigeren Ära für den Tourismus verstanden werden, global wie lokal.“ Wie eine solche neue Ära aussehen kann, dafür entwarf das Forscherteam des Zukunftsinstituts einige Szenarien.
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