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Als die Städte Pause hatten

„Philosophie gedeiht, wenn die Dinge in Unordnung geraten“, formulierte Richard David Precht einmal. Volltreffer, was das Jahr 2020 angeht! Philosophische Frage Nummer eins: Ist eine Stadt ohne Menschen noch eine Stadt? Eine Bilderreise zurück in den Shutdown.
Claudia Piller-Kornherr
  • Vaporetto-Station San Zaccaria - Venedig im Lockdown
    Vaporetto-Station San Zaccaria - Venedig im Lockdown

Aus Angst vor der Pest beschloss Venedig im 14. Jahrhundert, ankommende Schiffe 40 Tage lang zu isolieren. Das heißt, die Schiffe lagen im Hafen, die Besatzung durfte aber nicht an Land. Von dieser Zahl 40 – italienisch quaranta – leitete sich die Quarantäne ab. Ein Treppenwitz der Geschichte, war doch die Serenissima eine der ersten Städte Europas, die im Frühjahr 2020 wegen einer weltweiten Pandemie den Shutdown ausriefen. An die 100.000 Touristen streifen an einem normalen Tag durch Venedig. Während des Karnevals sind es so- gar 130.000. Doch normal war in diesem Jahr gar nichts, in dem das Virus die Stadt – ach was, die Welt! – zum Stillstand brachte. Die Stadtverwaltung sagte den Karneval ab – das war noch nie zuvor passiert. Das Wasser war ruhig, die Luft rein, man hörte die Möwen kreischen und nicht die Rollkoffer auf den Gehwegen. Keine Kreuzfahrtriesen, keine knipsenden Touristengruppen auf  der Rialtobrücke und das Wasser der Kanäle so glatt und klar wie seit Jahrzehnten nicht. Venedig gehörte wieder den Venezianern. Und der Tier- und Pflanzenwelt: „Die Flora und Fauna der Lagune haben sich während der Ausgangssperre nicht verändert. Aber was sich verändert hat: Wir haben die Möglichkeit, sie jetzt zu sehen“, sagte der Zoologe Andrea Mangoni der Nachrichtenagentur AFP.

Die Bilder, die uns während dieser Zeit über das Fernsehen oder via Social Media erreichten, transportierten eine Leere, die atemberaubend schien. Und das nicht nur in der Lagunenstadt. Die Gondoliere in der Serenissima, die sonst staunende Japaner durch die Lagune rudern, verloren im Zuge der allgemeinen Ausgangssperren ebenso ihre Existenzgrundlage wie ihre Kollegen in den berühmten gelben Taxis in New York.

Vor dem Brandenburger Tor waren statt Städtetouris nur ein paar einsame Jogger unterwegs. Die Champs-Élysées in Paris wurden zum gefahrlosen Paradies für Radfahrer. Und die spärlich bekleideten Sonnenanbeter Kaliforniens zogen in diesem Frühling dem Santa Monica Pier in Kalifornien die eigenen vier Wände vor. Menschenleere Straßen auch in Rom, London oder Barcelona.

In Thomas Glavinic’ bekanntem Roman „Die Arbeit der Nacht“ spielt der Autor raffiniert mit dem Thema, wie es sich anfühlt als der letzte Mensch auf Erden. Jonas, die Hauptfigur des Buches, wacht eines Morgens auf und findet seine Heimatstadt Wien ohne Menschen vor, ebenso den Rest Österreichs und offenbar die ganze Welt. Niemand ist da – ein Szenario, das uns im allgemeinen Lockdown im Frühjahr 2020 wieder in den Sinn gekommen ist. Wir erlebten vormals quirlige Metropolen, die zum Stillstand kamen, sahen Städte ohne Städter und selbst in der Stadt, die niemals schläft, flackerten die Leuchtreklamen am Times Square unbeachtet vor sich hin. Werbung erübrigt sich irgendwie, wenn man nicht shoppen kann. Die verwaisten Straßenzüge, die bedrückende Stille, die touristischen Sehnsuchtsorte, die zu Geisterstädten wurden – all das wird noch lange in unserem kollektiven Gedächtnis bleiben und vermutlich Eingang in die Geschichtsbücher finden. Beklemmend, surreal und verstörend waren die Bilder und transportierten doch eine Art melancholische Ästhetik. Eine traurige Magie, schaurig und schön zugleich. Doch gewöhnen möchten wir uns nicht an Städte ohne Menschen.

Mehr lesen Sie in der neuen VORFREUDE.

  • Champs-Élysées - Paris, 22. April 2020
  • Grand Central Station - New York, 6. April 2020
  • Brandenburger Tor - Berlin während der Ausgangsbeschränkungen
  • Strand von Santa Monica - Kalifornien, 31. März 2020